Diese Geschichte stammt von Michael Altenhofer
Gefunden im Newsletter von Zeitzuleben

Die Weisheit der Schneeflocke

Einige Tausend Meter von der Erde entfernt formte sie sich zu einem einzigartigen Kristall, um sich mal schneller, mal langsamer als Schneeflocke der Erdanziehungskraft hinzugeben und weiter unten einen Landeplatz zu finden. Ein Baum ist es geworden. Behangen mit Lichtern, Weihnachtsdeko und Lautsprecherboxen. Sanft landet sie auf allen, die vor ihr angekommen sind. Die Melodie der Weihnachtslieder strömt beschwingend durch die Äste und hält die Schneeflocken wach, um das Treiben unter ihnen auf diesem Adventsmarkt zu beobachten. Es ist Abend.

Das Plaudern der Menschen wird nur hörbar, wenn ein Lied zu Ende ist und das nächste noch nicht angefangen hat. Sonst ist das Plaudern für die Schneeflocken am Baum nur ein Hintergrundgeräusch zur Musik. Ein Lied ist zu Ende. Unter dem Baum der gerade angekommenen Schneeflocke unterhalten sich eine Frau und ein Mann über ihren Alltag, ihre Wünsche und Ziele für die Zukunft. Neugierig hören die Schneeflocken zu.

„Ich war schon sehr gespannt auf die Menschen“, sagt die Neue zu einer anderen Schneeflocke auf einem Nebenast. „Immerhin bin ich das erste Mal hier.“

„Wenn du in ferner Zukunft wieder herkommst, wirst du etwas Ähnliches hören“, versicherte ihr der Veteran unter den Schneeflocken. „Letztendlich geht es immer um ihre Zukunft. Und sehr oft auch um ihre Sorgen, wie diese Zukunft sein wird. Manchmal geht es auch um das, was sie den ganzen Tag so machen. Das nennen sie Gewohnheiten. Hör mal, was jetzt gerade da unten Thema ist.“

Beide müssen sich auf die Unterhaltung konzentrieren und beschließen, die nächste leichte Windböe zu nutzen, um ein Stück weiter runterzurieseln. Nun liegen sie auf dem Vordach einer Punschhütte und hören zu. Der Veteran hatte Recht. Die Frau und der Mann sprechen über ihre Gewohnheiten und darüber, was sie zu ändern gedenken. Die Frau will sich nicht mehr so antreiben lassen. Der Mann stimmt ihr zu. Er will in Zukunft auf Kaffee verzichten. Wenigstens am Nachmittag. Einvernehmlich entscheiden sich beide, zu Hause nicht mehr über Probleme in der Arbeit zu sprechen. Man merkt: Dieser Austausch an Vorhaben stimmt sie optimistisch, dass dies alles gelingen wird.

Der Veteran kichert ein bisschen: „Alles nur Geschwätz nach dem zweiten Punsch. Sie unterschätzen, wie anstrengend etwas Neues sein kann. Selbst bei banalen Dingen entscheiden sie sich lieber für den bequemen Weg, sogar wenn dieser mit Nachteilen verbunden ist.“

„Woher willst du das wissen?“, wundert sich das junge Schneeflöckchen.

„Das kann ich dir gerne erzählen“, antwortet der Ältere. „Im letzten Winter war ich schon einmal bei den Menschen. Unweit von hier in einem Wald. Es schneite damals heftig. Trotzdem kamen immer wieder Spaziergänger, um Tannenzapfen und Zweige für ihre Dekorationen zu sammeln. Durch den vielen Schnee waren manche Wege schwierig zu durchschreiten. Und so wurden immer nur dieselben Wege begangen – und die Tannenzapfen und Zweige dort natürlich immer weniger. Durch die vielen Fußspuren blieben diese Wege leicht passierbar. Gleichzeitig wurde der Tiefschnee bei den anderen Wegen immer höher.“

„Und was hat das mit den Gewohnheiten zu tun?“, fragt die junge Schneeflocke.

„Ziemlich viel!“, erwidert Herr Flocke. „Denn die zugeschneiten Wege erinnern an neue Gewohnheiten. Durchzuwaten ist mühsam. Es ist anstrengend und man wird nass. Deshalb vermeiden die Menschen solche Wege. Sogar dann, wenn es sich lohnen würde. Die meisten entscheiden sich doch wieder für den einfachen Weg, der schön ausgetreten ist. Der Weg durch den Tiefschnee würde zwar auch leichter werden, wenn sie öfters hin und her gehen, aber so weit kommt es meistens nicht. Deshalb bleibt dieser Weg immer mühsam. So wie neue Handlungen und Verhaltensweisen auch immer mühsam bleiben, weil sie einfach nicht oft genug getan werden. Und so bleiben viele Menschen immer bei den alten Gewohnheiten, weil diese Wege leichter zu gehen sind.“

„Gibt es da keine Ausnahmen? Können neue Gewohnheiten nie leicht werden?“, möchte das Flöckchen wissen.

„Doch. Auch damals gab es eine Familie, die durch den Tiefschnee gestapft ist. Sie wollten unbedingt mehr Tannenzapfen und Zweige finden. Sie hatten ein großes Fest geplant. Sie hatten also einen wichtigen Grund, und deshalb haben sie die Mühe auf sich genommen.

Später erzählte mir eine andere Schneeflocke, dass sie am Fensterbrett eines Hauses lag und hineinblickte. Sie sah ein wunderbares Fest. Glückliche Menschen. Und eine Deko mit viel Liebe zum Detail und zur Natur. Denn diese schön verzierten Tannenzapfen und Zweige mussten aus dem Wald kommen. Diese Familie hatte etwas ganz Besonderes gemacht. Ich wusste natürlich sofort, um wen es sich handeln musste.“

„Um die Familie, die durch den Tiefschnee ging?“, vergewisserte sich das Flöckchen.

„Ja. Und noch etwas habe ich seither immer wieder beobachtet: Menschen mit der Bereitschaft, durch den Tiefschnee zu gehen, mögen sich zwar zu Beginn mehr anstrengen, sind im Nachhinein aber immer glücklicher als die meisten anderen.“


Autor: Michael Altenhofer (mehr erfahren >)

Quelle: Newsletter Zeitzuleben (zur Website >)